Die schockierende Wahrheit

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Inhaltsverzeichnis

Wieder einmal bin ich in einem vollkommen überfüllten Zug unterwegs. Plötzlich entsteht Aussteige-Hektik. Na ja, keine überraschende Hektik, weil die Ansage des Zielbahnhofs es wahrscheinlich macht, dass Menschen aussteigen. Es wird gedrängelt, geruckelt, geschubst und geschwitzt. Kein Wunder bei den Temperaturen. Ich beobachte die Menschen und bin froh, nicht aussteigen zu müssen, nicht in diesen Flow zu geraten. Dann sehe ich den kleinen Jungen. Er kann gerade eben stehen. Sein kleiner Körper biegt sich unter dem Einfluss der Zugbewegungen und der Menschen um ihn herum, und er geht mit. Ja, du hast richtig gelesen. Er kämpft nicht, sondern er macht die Bewegungen mit, erzeugt sie, übt sie auch dann noch, als die Impulse dazu ausbleiben. Dann begegnen sich unsere Blicke. Ein Strahlen, auf beiden Seiten. Und nun muss er auch noch den Kopf drehen, weil die Schlange ihn unbarmherzig vorwärtsbewegt. Er schaut noch einmal ganz kurz mit diesem Strahlen zu mir, dann geht es weiter vorwärts.

Alltagsmagie und eine Erkenntnis

Ich bleibe zurück, mit seinem Strahlen in mir. Alltagsmagie. Mich berührt seine Unschuld, die ehrliche Freude über eine freundliche Person. Kein soziales Lächeln, sondern ein unschuldiges, unbedarftes, ungetrübtes Auf-die-Welt-Zugehen. Als hätte er keine Wahl. Und noch während ich diesem Gedanken folge, durchströmt mich das Gefühl meiner Erkenntnis: Er hat sie tatsächlich nicht. Ich merke, wie ich mich angesichts dieser Einsicht entspanne, spürbar nachgebe. Diesem Zustand folgt Aufgeregtheit. Ja, ich bin innerlich richtig kribbelig, weil diesem Gefühl eine weitere Erkenntnis folgt: Wir haben sie alle nicht, die Wahl. Leben geht immer nur vorwärts und wir können dem nicht ausweichen. Wir können nur mitmachen und uns selbst treu bleiben – auf die eine oder andere Art. Tatsächlich haben wir nur die Wahl, darauf zu achten, wie wir sie bewerten. Eine Erkenntnis, die nicht völlig neu für mich ist, aber anders als sonst trifft sie mich mit Wucht, schockartig – in diesem Fall nicht negativ, sondern befreiend.

Schock und Befreiung

Schock und Befreiung, zwei Begriffe, die nicht notwendigerweise zusammenpassen. Und doch treffen sie häufiger gemeinsam zu, als man glaubt. Zumindest, wenn das Wort Schock aus dem üblichen Kontext gerissen wird. Übersetzt aus dem Französischen, choc, bezeichnet es einen unerwarteten Schlag, eine Erschütterung, einen Zusammenstoß oder Aufprall. Ich mag daran die Qualitäten unerwartet und erschüttert. Unerwartetes kann gut oder schlecht sein, aber ich bin immer auf sein Erscheinen vorbereitet. Erschüttert bin ich beispielsweise, wenn meine Glaubenssätze in Frage gestellt werden oder meine stabilen Daten über mein Wissen. Aber selbst dann begrüße ich die Erschütterung, denn sie hält mich in Bewegung, bringt mich vorwärts – wie das Leben eben geht. Das entspricht der Realität, die ich als Kind gelernt habe. Inzwischen scheint sie sich sehr verändert zu haben. Sehr viele Menschen können sich auf Veränderlichkeit nur schwer einstellen. Sie wollen sich nicht bewegen. Alles soll planbar sein, sonst ist die Wirklichkeit sofort unerträglich. Doch was bedeutet das für unsere Realität – und vor allem für unsere Zukunft?

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Worte und ihre Bedeutung in unserem Nervensystem

Lass uns an dieser Stelle einen kleinen thematischen Schlenker machen. Wusstest du, dass es beispielsweise der Suchmaschinenoptimierung (SEO) zufolge mehr Blicke auf sich zieht, wenn Worte wie schockierend, alarmierend, endgültig, schrecklich oder katastrophal in einer Überschrift enthalten sind. Unfassbar, oder? Wenn ich dir also zurufen würde, wie großartig das Abenteuer Leben ist und wie gerne ich es erlebe, dann müsste ich es für mehr Aufmerksamkeit auf Instagram folgendermaßen formulieren: „Die schockierende Wahrheit ist, dass jeder Tag ein Abenteuer sein kann.“ Oder: „Die schreckliche Erkenntnis ist, dass du dich selbst ernst nehmen musst.“ Alternativ: „Eine neue, alarmierende Einsicht: Du musst Versprechen einhalten, vor allem die dir selbst gegenüber.“ Letzte Variante: „Ein katastrophaler Zustand: Du kennst die Zukunft nicht.“ Dieses Spiel könnte ich endlos fortsetzen und es würde im Internet genauso funktionieren wie in den Printmedien, der Werbung, auf Leinwänden oder im Radio. Jedes Mal wird eine positive Information mit einer beunruhigenden Wortwahl eingeführt. Das weckt deine Aufmerksamkeit. Immer entsteht ein kleiner Schrecken im System, aber nur durch alarmierende Worte. Wenn du dann liest, was dort steht, löst sich die Irritation wieder auf und dein Nervensystem beruhigt sich. Zugleich bist du unter dem Strich unverhältnismäßig lange und häufig physisch auf Alarm. Und es stimmt: Der Sog hinzuschauen ist immens. Marketingtechnisch genial. Ich habe mich selbst beobachtet und festgestellt, dass dieser Trick funktioniert. Und ihm auf die Spur zu kommen, hat mir nicht geholfen, mich seinem Effekt zu entziehen. Was müsste dafür geschehen? Die Antwort klingt fast banal:

Wir müssten uns verändern und vor allem unseren Umgang mit der Realität oder dem, was man uns dafür verkauft.

Realität im Spiegel der sozialen Medien

Lass uns die Realität und unseren Umgang damit noch mal genauer untersuchen. Alle Menschen, die in den sozialen Medien unterwegs sind, bekommen eine individuelle, auf ihr Suchverhalten angepasste Sicht auf die Realität. Das heißt, niemand kann seine Realität auf diesem Wege wirklich teilen und wirklich keine einzige Realität gleicht der anderen. Im Gegenteil, die Realität ist so persönlich gemünzt, dass sie auch den Wunsch nach Vorhersehbarkeit – bloß keine Veränderung! – gleich miterfüllt. Und genau das wird uns auch vorgegaukelt: das menschliche Verhalten sei vorhersehbar, durchschaubar. Jetzt kommt mein Einwand: Aber nur, wenn wir alle brav mitspielen. Denn natürlich können wir unsere Realitäten noch abgleichen, natürlich können wir noch über den Tellerrand schauen, natürlich können wir uns der Veränderung öffnen: indem wir miteinander sprechen. So ganz unmittelbar, anfassbar real, ohne ein Medium dazwischen. Und dafür brauchen wir nicht viel.

Nur 3 Dinge

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Wenn ich genau darüber nachdenke, dann komme ich zu 3 Dingen im Umgang miteinander, die mir wirklich wichtig sind:

  1. Lüg mich nicht an.
  2. Verschwende nicht meine Zeit.
  3. Verkaufe mich nicht für dumm.

Wenn wir uns da ernst nehmen würden, wären wir dann nicht weniger manipulierbar? Diese Frage beschäftigt mich schon seit meiner Teenagerzeit, und die ist wirklich schon ein paar Jahrzehnte her. Kann ich den unterbewussten Tricks von Manipulation widerstehen? Ja, kann ich, denn Manipulation ist mir unangenehm, und das Gefühl kann ich erkennen. Braucht es dazu Aufmerksamkeit? Unbedingt, denn sonst folge ich unbewusst. Eine unbequeme Wahrheit.

Unbequeme Wahrheiten für die Zukunft

Wahrheit ist ein unbequemer Begriff. Du fragst, warum? Weil die Wahrheit immer gleichbleibt. Unbestechlich. Nur unsere Interpretationen und Ausschnitte von Wahrheit ändern sich. Selbst unser Bild von uns selbst variiert. Darüber habe ich schon geschrieben. Die Wahrheit lässt sich nicht beugen, weil wir es gerne wollen. Und darüber hinaus ist sie in Zukunft nicht komfortabel. Wir wissen eine ganze Menge darüber, und doch verharren wir in der gewohnten Haltung und Anforderung an das Leben. Wir verweigern das, was uns nach vorne bringen würde: Bewusstsein, dass wir alle im selben Boot sitzen, dass wir deswegen unser Miteinander ganz anders pflegen müssten, als wir das bisher tun. Auch darüber habe ich schon geschrieben.

Veränderung beginnt mit einem Buchstaben

Es wird unbequem, zumindest für die nächsten 200 bis 300 Jahre. Wir müssen unsere Realität wahren, uns erschüttern lassen, und wir müssen uns auf Veränderungen einlassen, von deren Gewinn wir nicht mehr selbst profitieren werden. Das wiederum widerspricht der Beschreibung des Menschen als egoistischem Wesen, einem Menschenbild, auf dem auch die genannten Marketingprinzipien basieren: Menschen sind nur interessiert, wenn sie einen persönlichen Vorteil von etwas erkennen können, also einen Mehrwert erhalten. Deswegen werden Worte verdreht, bewusst manipulierend eingesetzt und es wird uns verkauft, es gehe nur so und das sei das, was wir wollen. Sollen wir dieser Annahme ohne Widerstand zustimmen? Wollen wir uns wirklich dermaßen ablenken oder betäuben lassen? Und selbst wenn wir zustimmten, dass der Mensch immer einen Mehrwert braucht: Könnte dieser Mehrwert nicht auch ein besseres Lebensgefühl sein? Könnte er nicht in Qualität liegen statt in Quantität? Könnte er nicht darin liegen, gemeinsames Denken zu praktizieren, und das auch noch divergent, anstatt einander Vorwürfe zu machen?
Ich halte das sehr wohl für möglich. Genau genommen müsste man nur einen Buchstaben verändern, um die 3 Dinge für die Zukunft umzusetzen:

  1. Lüg dich nicht an.
  2. Verschwende nicht deine Zeit.
  3. Verkaufe dich nicht für dumm.

Nimm diese Sätze in deinen Alltag, in deine Beziehung mit dir und anderen. Beobachte, was dir auffällt. Sei bereit für Veränderung, für Reflexion und Erschütterung. Ein Zitat geht mir nicht aus dem Kopf. Es stammt von einem Dichter der Aufklärung, Gotthold Ephraim Lessing:

„Die Wahrheit hat noch bei jedem Streite gewonnen. Der Streit hat den Geist der Prüfung genährt, hat Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten; kurz, hat die geschminkte Unwahrheit verhindert, sich an Stelle der Wahrheit festzusetzen.“

Ich wünsche uns allen genügend Momente der Erschütterung und der Wahrheit – seien sie auch noch so unbequem.

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