Über Gräben und Grenzen

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Inhaltsverzeichnis

Beim letzten Mal habe ich mir die Gräben angeschaut, die sich in Zeiten der Pandemie zwischen Menschen auftun. Heute beschäftige ich mich mit den Eindrücken von der Berliner Mauer. Vor 60 Jahren wurde sie gebaut. Damals dachten viele, dass sie nur für ein Jahr da wäre. Dass man so etwas nicht tun würde – ein Land in zwei Teile spalten. Und dann geschah es doch. Weil Menschen so sind.

Ein Leben im Grenzgebiet

Ich wohne nah an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, habe diese Grenze also von Jugend an erlebt. Damals wohnte ich sozusagen am Ende der Welt. Heute wohne ich mittendrin. Beide Erfahrungen haben mich beeinflusst. Auch das Grenzgefühl war inspirierend. Ich bin mit der allgemeinen Überzeugung groß geworden, dass es diese Mauer immer geben werde. Dass sie unüberwindbar sei. Meine Ungläubigkeit darüber kann ich immer noch fühlen. Genauso meine Angst, wenn ich über die Grenze fuhr, weil ich Verwandte besuchte, eine Weiterbildung in Berlin machte oder einen Tanzworkshop.

Die Mauer fällt

Dann fiel sie doch - die Mauer. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich es erfuhr. Ich gab gerade Training in meinem Studio, und eine meiner Mitarbeiterinnen stand plötzlich tränenüberströmt in der Tür. „Die Mauer ist weg.“ Sie selbst hatte zwei Jahre vorher „rübergemacht“, indem sie einen Freund geheiratet hatte, um in den Westen kommen zu können. Eine Scheinehe, mit allen Mühen, die damit verbunden sind, inklusive der unmittelbaren Scheidung nach angemessener Dauer.

Ich stellte sofort die Musik ab und unterbrach meinen Kurs. Wir alle lagen uns in den Armen und weinten über diese Vereinigung, die über viele Jahrzehnte so unmöglich erschienen war. Das war 1989. Ein intensiver, bewegender Moment, der sich in meine Erinnerung eingegraben hat.

Zunächst waren alle positiv gestimmt. Die Wiedervereinigung – ein Zeichen der Versöhnung. Die Gräben, die sich in all den Jahren aufgetan hatten, blieben noch eine Weile unsichtbar.

Eröffnung der East Side Gallery

Schon im Jahre 1990 wurde die East Side Gallery feierlich eröffnet, von einem Schiff auf der Spree aus. Künstler aus aller Welt kamen und bemalten die Mauer. Vorher hatte sie weiß sein müssen – damit Flüchtlinge im Scheinwerferlicht sichtbar waren. Eine gruselige Wirklichkeit. Viele Menschen sind dort gestorben, wurden erschossen, weil sie trotzdem zu fliehen versuchten. Ein trauriger Ort. Nun aber sollte das traurige Weiß der bunten Welt der Kunst weichen. Welch ein Symbol!

Gräben werden sichtbar

Der anfänglichen Euphorie wich schnell die Erkenntnis, wie sich durch Grenzen Gräben auftun. Bestimmte Elemente dieser Gräben sind immer noch spürbar. Bis heute gibt es ein Gehaltsgefälle, Differenzen bei den Lebenshaltungskosten zwischen Ost und West. Bis heute sprechen wir in beiden Teilen Deutschlands über diese Unterschiede. Damals war selbst die unterschiedliche Bewertung von Sprache zu überbrücken. Eine besondere Erinnerung an diese Zeit prägte jemand, der mir folgenden Satz sagte:

„Was mich an Ihnen wahnsinnig macht, ist die Tatsache, dass Sie immer meinen, was Sie sagen.“

„Und wie kann das ein Grund dafür sein, Sie wahnsinnig zu machen?“, fragte ich nach einem langen Moment der Sprachlosigkeit, einem für mich eher untypischen Zustand.

„Bei Ihnen steht nichts zwischen den Zeilen. Ich bin ostdeutsch sozialisiert, deswegen bin ich es gewohnt, auch auf das Gesagte zwischen den Zeilen zu achten. Bei Ihnen steht da nichts. Aber nach drei Jahren Zusammenarbeit habe ich mich davon überzeugt, dass das echt ist und kein Trick.“

Das war der Beginn unserer Freundschaft. Die Überbrückung unseres Grabens hatte drei Jahre in Anspruch genommen. Drei Jahre, in denen ich noch nicht einmal wusste, dass es diesen Graben gegeben hatte. So kann es auch gehen. Die Lösung war: Kommunikation. Ganz einfach. Und das Warten auf den richtigen Zeitpunkt. Das ist weniger einfach.

Gräben der Pandemie

Was hat das mit den Gräben der Pandemie zu tun? Nun, wir sind in zwei Lager aufgeteilt. Derzeit gibt es Geimpfte und Nicht-Geimpfte. Es gab die Gefährdeten, die Benachteiligten, die Nutznießer, die Machthaber. Als wären wir nicht alle Menschen mit verschiedenen Ansichten über die Welt. Sollte es nicht verschiedene Ansichten zwischen Menschen geben dürfen, ohne sie gleich ganz zu trennen?

Und so stelle ich mir die Frage, woran wir uns erinnern wollen, wenn wir in zwanzig Jahren auf diese Zeit zurückblicken.

Wollen wir die Gräben betrachten? Jene, die wir derzeit in Familien, zwischen Freunden und auch einfach in der Öffentlichkeit haben? Diese Gräben sind Ausdruck unserer Sprachlosigkeit in Zeiten der Verunsicherung.

Manchmal denke ich, wir müssen überhaupt erst lernen, wie wir richtig miteinander sprechen. Über das, was uns schmerzt, das, wovor wir uns fürchten, und das, was wir uns nicht vorstellen können oder wollen. Statt unsere Aufmerksamkeit der Teilung zukommen zu lassen, müssten wir uns unsere ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Darüber schreibe ich Geschichten – in meinem neuen Format "BeziehungsWeise", das gerade entsteht. Könnten wir etwas aus dem aktuellen Vorgang um die Berliner Mauer lernen? Schauen wir uns das an.

60 Jahre Mauerbau – ein Lehrstück

Im Jahr 2021 ist der Mauerbau sechzig Jahre her, ihre Bemalung über dreißig. Anlässlich des Jubiläums erfolgte eine Sanierung der Bilder an der East Side Gallery. Sie mussten gereinigt werden, von Dreck, Graffiti und achtlosen Kritzeleien. Seit März 2021 erscheinen sie im vollen Glanz. Die größte Open-Air-Galerie ist wieder ein Schmuckstück als Touristenattraktion. Niemand mehr beschmiert die Kunstwerke. Als wäre zu merken, dass sich wieder jemand um sie kümmert. In der Zukunft müssen wir genau das tun: uns reinigen, aufmerksam sein und uns kümmern. Um die anderen und um uns selbst.

Ich schaue die Mauer von allen Seiten an; sehe die Menschen, die sich frei bewegen, und alles ist voller Leben. Als hätte es die Vergangenheit nie gegeben. Mit der Mauer schaue ich auf eine Grenze, die einen Graben geschaffen hat. Einen, der latent noch da ist. Doch zusammen mit den anwesenden Künstlern entsteht Bewusstsein über Grenzen und die Notwendigkeit, sie aufzulösen. Bewusstsein, dass wir alle Menschen sind. Zumindest das könnte uns in jedem Fall vereinen, mit all unseren Unterschieden. Dafür müssen wir eintreten. In der Zukunft müssen uns zwischenmenschliche Kontakte einfach wichtiger werden als Arbeit und Karriere. Das nenne ich Freundschaft. Eine zu Menschen allgemein. Und eine, wie ich sie mit dem Illustrator Ignasi Blanch pflege, über jede Grenze und jeden Graben hinweg.


Freundschaft

Auch er hat die Mauer bemalt. Und er ist anwesend. Unsere Begegnung ist intensiv wie immer. Als Illustrator war eine so großflächige Bildgestaltung für ihn eine besondere Erfahrung. Damals. Sie führte dazu, dass er bis heute seine Studenten animiert, auch mal mit großen Flächen zu arbeiten. Dafür geht er mit ihnen in Krankenhäuser und malt dort die Wände bunt an. Meistens beginnen sie auf der Kinderstation, um sie schöner zu machen und damit Gesundung zu erleichtern. Ignasi ist ein Menschenfreund. Das hilft, Abstände zu überbrücken. Auch daraus können wir lernen. Denn eine grundsätzliche freundliche Haltung erlaubt, über Gräben hinweg zu leben.

Ich spreche von Liebe

Ignasis Motto von damals: "Parlo D'Amor". Die Worte stehen quer über seinem Bild. Über Liebe spricht er bis heute.
Sein Schaffen dient dem Überbrücken von Grenzen, dient dazu, anderen zu helfen, ihnen zu ermöglichen, dass etwas in ihrem Leben passiert. Zu seinem Video, das er eigens für das Mauerjubiläum gemacht hat, singt Pili Cugat ihr Lied "Sé una dolca mà" (übersetzt: "Ich kenne deine süße Hand.") mit den Worten von Vicent Pellicer.
Auch sie spricht von Liebe. Ihr gemeinsames Projekt heißt Liebe tut nicht weh.

Dabei erzeugt ein Impuls den anderen, und so entsteht aus vielen Impulsen eine Linie, die sich wie ein Fluss durch eine Landschaft schlängelt. Ein Fluss, in dem jeder Tropfen Wasser wichtig ist, jeder Strudel willkommen, und in den jede Umgebung einbezogen wird.

Woran wir uns erinnern wollen

Meine Eindrücke von der Mauer sind viel übertragbarer auf unsere jetzige Zeit, als ich es zu Beginn meiner Gedankenreise erwartet habe. Ursprünglich wollte ich nur meine Eindrücke teilen, Dich inspirieren, aus der unmittelbaren Vergangenheit zu lernen, Gräben und Grenzen betrachten. Dann erkannte ich, wie viel mehr in diesem Gedankenspiel steckt. Denn während wir uns erinnern und reflektieren, muss es in uns immer auch den Gedanken geben, dass wir alle Menschen sind. Mit manchen haben wir scheinbar viel zu tun, mit anderen scheinbar wenig. Und ja: Würde ich in einer bunt gemischten Gruppe nach Gemeinsamkeiten suchen, wäre es vermutlich viel einfacher, Unterschiede zu finden. Was aber, wenn ich die Frage stellte, wer gerne Schokolade isst oder wer gerne tanzt oder wer gerne lacht? Ich bin sicher, es gäbe auf einmal ziemlich viele Gemeinsamkeiten.

An diese Erkenntnis will ich mich erinnern, wenn ich in zwanzig Jahren auf diese Zeit zurückblicke. Und ich bin neugierig auf Deine Antwort, wenn ich Dich frage: Woran willst Du Dich erinnern?

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