Menschlichkeit in einer digitalen Welt

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Inhaltsverzeichnis

Mein Bildschirm ist dunkel. Einschalten oder nicht? Okay, ich muss noch ein paar Dinge erledigen. Je eher daran, je eher davon, denke ich, und schon habe ich auf Power gedrückt. Mein Bildschirm ist längst mein Fenster zur Welt. Er erlaubt mir, Grenzen zu überschreiten. Nationale, zeitliche, räumliche. Unbegrenzte digitale Welt. Die Freiheit, alles zu verbinden, wann immer ich möchte. Alles nur Illusion?


Die reale Welt

Noch während sich meine Gedanken auf den Weg machen, suchen meine Augen die Weite des Horizonts. Ich schaue auf das Feld vor meiner Terrasse, sehe Windräder, Vögel, eine schwarze Katze und einen wundervollen blauen Himmel. Das ist die wahre Welt, die, die ich anfassen und riechen kann. Die, mit der ich mich verbinde, um den Anforderungen des Alltags gewachsen zu sein. Die, in der ich mich seit meiner Kindheit bewege.

Kostbarer denn je erscheint sie mir und tatsächlich viel schöner. Schaue ich nur besser hin oder wird sie mir kostbarer, weil mir durch das Corona-Jahr Vergänglichkeit bewusster wird? Beides beantworte ich mit einem entschiedenen Nein. Mein Blick auf die Welt war immer sehr bewusst und positiv. Auch jetzt. Ich bin sicher, es wird gut ausgehen. Auch wenn ich tatsächlich keinen Schimmer habe, wie das genau aussehen kann. Wird es jemals wieder wie vorher werden? Das bezweifle ich, und ich fühle mich wohl dabei. Das Vorher erscheint mir inzwischen gar nicht so erstrebenswert.

Das ganze Bild

Oft höre ich, wie sehr Menschen es genießen, weniger Sozialstress zu haben. Wie sie die Entschleunigung schätzen. Sie wagen kaum, es zu sagen, aber sie fühlen sich als die Gewinner der Pandemie. Selbst, wenn sie finanzielle Einbußen zu beklagen haben. Irgendetwas fühlt sich besser an.

Andere haben Angst, kämpfen um ihre Existenz, wüten gegen die Beschränkungen aus der Politik. Viele haben ein Berufsverbot, ohne etwas falsch gemacht zu haben. Ich denke an die Gastronomen, die Künstler oder den Einzelhandel, um nur einige zu nennen. Mit Kreativität finden viele trotz der Beschränkungen einen Weg, ihre Existenz zu sichern. Andere kämpfen buchstäblich um ihr Leben. Auf der Intensivstation.

Verschiedene Ausschnitte aus dem ganzen Bild. Welchen Ausschnitt darf ich benennen? Wann überschreite ich die Grenzen der Menschlichkeit? Ist die Not des einen wirklich größer als die des anderen? Wer legt fest, was ich sagen oder was ich denken darf? Brauchen wir ein gemeinschaftliches Korrektiv? Wieder komme ich zu einem klaren Nein. Jede Wirklichkeit ist echt, vorhanden, und fordert Beachtung. Alle Menschen sind von den Auswirkungen der Pandemie betroffen. Jeder auf seine Art. Das ist für mich überdeutlich sichtbar.

Ist es nicht das, was Menschlichkeit ausmacht? Alles zu sehen und mitzufühlen?

Moment der Erkenntnis

Manchmal lebe ich in einem gefühlten Schwebezustand. Er ist mir nicht unangenehm. Längst habe ich mich mit dem Rückzug arrangiert. Neulich war ich einkaufen, zum ersten Mal seit ein paar Wochen. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das ein Abenteuer vor sich hat. Mein Ausflug in den nahegelegenen Bioladen verdeutlichte mir, wie sehr ich es gewohnt bin, mit den Klicks im Internet umzugehen. Ich stand vor der Käsetheke und bestaunte die große Auswahl. Auf die freundliche Frage, was ich haben wolle, antwortete ich: „Keine Ahnung. Ihr Angebot ist so groß. Ich muss erst mal alle Schilder lesen.“

Das war der Moment der Erkenntnis. Normalerweise weiß ich, was ich will. Ich entscheide mich schnell, lasse mich wenig ablenken. Das allgegenwärtige Überangebot ist für mich digital leichter zu handhaben als in der realen Welt. Umgekehrt kann ich das Angebot digital viel größer machen. Es liegt also an meinen Grenzen, jenen, die ich setze. Mit Blick auf einen Zustand wie die aktuelle Pandemie wird es offensichtlich immer schwieriger, die Grenzen zu akzeptieren, die uns andere setzen. Vor allem angesichts der gefühlten Endlosigkeit der Situation.

Freiheit in der Krise

Grenzen zu erschaffen ist leicht. Sie einzuhalten oder zu verstehen, weniger. Und: Grenzüberschreitungen werden unterschiedlich definiert. Was für den einen freie Meinungsäußerung ist, ist für den anderen Geschmacklosigkeit oder gar Menschenverachtung. Selten wurde dem Einzelnen im Namen der Menschlichkeit so viel Beschränkung auferlegt. Eine, die manch einer als unerträglich empfindet. Umgekehrt wird von allen erwartet, dass wir unser Pandemieproblem gemeinsam lösen.

Kann es sein, dass wir durch die Erfahrungen der letzten Monate vergessen, was der Unterschied zwischen Menschlichkeit und Egoismus ist? Ist Altruismus, Selbstlosigkeit, wirklich die wichtigste Tugend? Sollte Menschlichkeit nicht auch für die gelten, die mit dem Finger auf Missstände zeigen? Die Wünsche, Forderungen für sich und ihre Familien äußern?

Auch Egoismus ist menschlich, und zugleich merke ich, dass er sich wie eine enge Box anfühlt. Die Box der Beschränkungen hingegen empfinde ich als weniger eng. Dieses Paradoxon interessiert mich. Meine innere Freiheit war nie größer als jetzt, zumindest fühlt es sich so an. Woran liegt das? Die Antwort: Meine Kompromisslosigkeit, wofür ich stehe, wie ich denke und wonach ich suche, wurde noch nie so auf den Prüfstand gestellt. Und zwar durch mich selbst. Damit verbinde ich Freiheit, eine, die ich jederzeit erschaffen kann.

Die Grenzen der anderen

Während ich über Freiheit nachdenke, über meine und die der anderen, weitet sich mein Blick. Es gibt die kleine und die große Freiheit, die vollkommen unterschiedlich bewertet werden. Viele Menschen in Deutschland fühlen sich in ihrer Freiheit eingeschränkt, weil sie nicht reisen können, nicht ausgehen, nicht ins Restaurant. Aber ist das wirklich so schlimm? Schaue ich nämlich auf die aktuellen Unruhen in Israel, relativiert das unsere Nöte gewaltig. Ich habe beruflich mit Menschen aus Tel Aviv zu tun. Sie sind jung und haben sich an einen Frieden gewöhnt, der jederzeit brechen kann. Sie leben mit der Allgegenwärtigkeit von Tod. Auf meine Frage, wie lang die längste Phase von Frieden in ihrem Leben gedauert hat, antworten sie: „Definiere Frieden.“ Ich konkretisiere: „Keine Raketen.“ Ihre Antwort kommt schnell und halb lachend: „Dann hat es nie Frieden gegeben.“ Ich variiere: „Okay, wie lange war die längste Phase ohne Krise und große Explosionen?“ Ihre Antwort: „Dann sind es sieben Jahre.“

Betroffen atme ich ein. Sie sind Anfang 30, ich bin fast doppelt so alt. Die einzige Explosion, mit der ich bisher umgehen musste, ist die des Grüns in meinem Garten. Das sage ich ihnen, und meine Antwort bringt sie zum Lachen. Während wir sprechen, toben die Kämpfe mit der Hamas. Trotzdem können wir gemeinsam lachen. Galgenhumor? Oder haben sie meine Betroffenheit gemerkt, mein Bemühen, ihre Wirklichkeit zu verstehen? Ein unmögliches Unterfangen, denn ich lebe im längsten Frieden, den es in Deutschland je gegeben hat. Meine Friedensspanne währt schon mein ganzes Leben lang. Welch ein Luxus. Wie soll ich Krieg verstehen?

Und dennoch: Die digitale Verbindung erweitert meine Möglichkeiten, meinen moralischen Kompass neu einzunorden. Auch über diese Verbindung hinaus. Ein digitaler Vorteil. Mit deutlicher Auswirkung auf meine Menschlichkeit.

Digitale Welt

Digital kann ich überallhin, alles tun und alles sehen. Allerdings richten die Beschränkungen der letzten Monate unsere Aufmerksamkeit auf das, was wir nicht haben. Kontaktverbot erschafft Kontaktsehnsucht. Doch noch nie konnten wir beides so leicht haben wie jetzt, wenn wir digitale Kontakte als vollwertig anerkennen.

Welche Frage also sollten wir stellen? Ich probiere einige aus:

Wie kann digitaler Kontakt gleichwertig werden oder sein? Wie können wir die gemeinsame Qualität beeinflussen? Wie viel braucht es wovon? Sind digitale Berührungen ein gleichwertiger Ersatz?

Was zweifellos fehlt, sind die sinnlichen Elemente, die neben den Augen und den Ohren zählen. Die Sinnlichkeit von Geruch, Geschmack, Berührung, … . Da brauchen wir Fantasie.

Kontakt entsteht durch Wahrhaftigkeit. Vor einer Kamera sind wir in jedem Fall gefragt, wahrhaftiger zu sein. Vor der Kamera kann man sich schwer verstecken – besonders live. Vielleicht geht es darum?

Man kann nicht alles retuschieren oder bearbeiten. Kontakt entsteht durch Worte und den Mut, sich zu offenbaren. Obgleich digital nur zwei Sinne genutzt werden, kann digitaler Kontakt ein guter Übungsraum sein. Spontane Berührungen erfolgen dann durch die Zeit, die wir zur Verfügung stellen, und durch unsere Herzen. Auch sie können sich berühren, wenn wir es erlauben. Ohne Maske und nahezu risikolos. Auf diese Weise entstehen auch digital Begegnungsräume, solche, wie ich sie auch in meinem Blog Über rosa Zonen beschrieben habe.

Es ist alles da

Es ist nie das Medium, das uns und unsere Menschlichkeit erschafft, sondern wir erschaffen uns selbst. Wenn wir unsere Menschlichkeit üben, digital oder analog, wenn wir jeden Raum nutzen, der uns zur Verfügung steht, dann entsteht eine kraftvolle, vollwertige Realität. Es ist alles da. Wir müssen nichts hinzufügen. Unsere Welt ist längst digital, auch wenn wir es immer noch oft leugnen.

Realität ist nicht mehr als die Wirklichkeit, in der und mit der wir leben – und leben wollen. Unsere Gestaltung beginnt im Inneren, und folgen wir diesem Gedanken, können wir von Äußerlichkeiten erstaunlich unabhängig sein.

Welche Art digitalen Kontakt willst Du mitnehmen in Deine Zukunft nach der Pandemie? Welche Fertigkeiten musst Du dann noch ausbauen? Und könntest Du lernen, mit dem Herzen zu hören? Ich bin neugierig auf Deine Antwort.

Du steckst fest, willst etwas ändern und weißt nicht was?
Du bist auf der Suche, ohne zu wissen wonach, denn eigentlich ist alles da.
Du suchst nach nichts Konkretem, aber bist offen für Inspiration für den Weg zu dir selbst?

Mechthild Rex-Najuch macht digitale Räume auf, um in den Kontakt zu gehen. Hier erfährst du mehr.

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