Grenzüberschreitungen und ein Lächeln

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Inhaltsverzeichnis

Die Frau vor mir spricht über ihre Grenzen. Vor allem über jene, die von anderen nicht beachtet werden. „Das kann man doch wohl erwarten!“ Nach einer dramatischen Pause schiebt sie nach: „Oder was meinen Sie?“ Ihre Reaktion bezieht sich auf einsteigende Mitreisende, die mit ihren Taschen und Koffern unentwegt rempeln, schubsen und laut sind. Bevor ich eine Chance auf eine Reaktion habe, spricht sie schon weiter.

Ein Tisch als Grenze

Ich höre ihr zu und beobachte ihr Verhalten. Wir fahren Zug und sitzen zu zweit an einem Vierertisch, den sie zu drei Vierteln belegt. Mit ihrem Getränk, ihrem Brötchen, ihrem Laptop und mit ihrer Körperlichkeit. Ich merke meine Verwirrung: Eigentlich ist die Frau klein. Es erstaunt mich, wie eine so kleine Person ganz selbstverständlich so viel Platz beanspruchen kann.

Normales Leben ist keine Therapie

In einer therapeutischen Situation hätte ich sie analysiert, ihr Hinweise gegeben, sie gespiegelt und ihr Fragen gestellt. Dieses Arrangement ist anders. Also warte ich ab und beobachte inzwischen leicht amüsiert, wie sie zunehmend den Raum einnimmt. Meinen Raum. Ihre Armbewegungen werden immer ausladender. Inzwischen stützt sie sich auf den Tisch. Den Tisch, der die Grenze zwischen ihr und mir darstellt. Mir drängt sich die Frage auf, warum Grenzwahrung so viele Probleme verursacht. Das ist nicht nur im Großen so – immerhin geht es in unserem Fall nur um einen Tisch, den wir gemeinsam nutzen.

Grenzen und ihre Dynamiken

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Meine Gedanken kreisen um Ländergrenzen und um die daraus entstehenden Konflikte. Mit welchem Recht eigentlich beanspruchen Menschen, dass ein Landstück ihnen gehört? Und: Gehörte es allen, müsste man dann nicht immer noch sagen können: „Hier lebe ich, bitte respektiere das!“? Was würde dann die andere Person sagen? „Aber ich möchte hier lieber leben!“?

Irgendwie finde ich diese Vorstellung sogar ein bisschen lustig. Stell dir das mal vor. Wie würdest du reagieren? Diese Frage meine ich ernst – beantworte sie dir unbedingt, denn Situationsfragen wie sie tragen zur Veränderung im Denken bei. Letztendlich spielst du so verschiedene Möglichkeiten schon mal durch, ohne in der Situation zu sein. Du versetzt dich hinein, du lernst etwas über dich und deine Reaktionsweisen. Um dir das Ganze zu erleichtern, schlage ich dir ein Denkspiel vor. Eines, das du hoffentlich auch mit anderen Menschen durchspielen wirst.

Denkspiel zum Thema Grenzwahrung

Die Situation: Du lebst in einer Welt ohne Grenzen.

Variante A: Du möchtest dich an deinem Lieblingsort niederlassen. Eine andere Person kommt dazu und beansprucht dasselbe Stück Land für sich. Welche der folgenden Antworten könntest du geben?



☐„Ich möchte hier lieber leben als du.“
☐„Hau ab. Ich war zuerst da.“
☐„Geh doch woanders hin.“
☐„Wir könnten zusammen hier wohnen. Was meinst du?“
☐Du vertreibst die Person mit der Androhung von Gewalt.
☐Eigene Idee: _______________________________________________

Variante B: Du lebst schon lange an deinem Lieblingsort. Eine andere Person kommt dazu und beansprucht dasselbe Stück Land für sich. Wie reagierst du?



☐„Wie kommst du auf diese Idee?“
☐„Hau ab. Geh woanders hin. Ich war schließlich zuerst da.“
☐„Ich wohne hier schon so lange. Zu bleiben ist mein gutes Recht.“
☐„Wie viel bekomme ich dafür?“
☐Du greifst an.
☐Eigene Idee: _______________________________________________

Vielleicht gelingt es dir, verrückte Antworten zu finden. Beobachte bei jeder Antwort deine Gefühle. Bewerte sie bezüglich Macht und Ohnmacht. Und vergiss nicht, sie auf ihre Konsequenzen hin zu untersuchen.

Wir brauchen Grenzen

Fest steht: Grenzen schaffen unglaubliches Chaos in der Welt. Es gibt natürliche, absurde und chaotische Grenzen, und in jedem Fall gibt es um jede von ihnen ein Konfliktpotenzial. Deswegen drängt sich mir eine Frage auf: Sind wir wirklich für Grenzen gemacht? Vieles spricht dagegen. Gleichzeitig gehören Grenzen zur Psychohygiene und sind für den guten Umgang miteinander zwingend. Ganz daran vorbeimogeln kann man sich an dem Thema offensichtlich nicht. Lass uns das nochmal anschauen.

Reisende im selben Zug  

Die Frau mir gegenüber und ich sind Reisende im selben Abteil. Es ist keine willkürliche Grenze, sondern eine natürliche, bestehend aus dem Platz, den der Tisch definiert. Während sie gestikuliert, spricht, kaut, trinkt und den Laptop hin und her schiebt, bin ich freundlich, höre, wie ihre Worte an mir vorbeiflattern, und frage mich, wann ich sie unterbrechen werde. Abrupt endet ihr Redeschwall. Keine Ahnung, warum. Ich habe nicht zugehört. Wie es scheint, ist sie fertig. Sie versinkt wieder in ihrem Computer und tackert energisch auf den Tasten herum. Noch während ich aufatme, wird mir klar, wie sehr sie meine Grenze überschritten hat – und ich habe es nicht gesagt. Was dann wohl passiert wäre? Anders als im normalen Leben toleriere ich auf Reisen viel mehr Übertretungen in meinem Raum. In Zügen ist es oft voll und eng. Wie soll ich da meinen Raum wahren? Meine Antwort ist einfach: Mein innerer Raum bleibt immer gewahrt. Der äußere variiert durchaus. Manchmal muss er das und manchmal tut er das.

Persönliche Grenzen

Schon wenn jeder Mensch nur seine eigenen Grenzen wahren und beachten würde, hätte das unmittelbare Auswirkungen auf unseren Umgang miteinander. Ob dann wohl Kriege stattfänden? Vielleicht nicht, denn bei Kriegen geht es oft um die Nichtachtung von Grenzen. Hast du deine Grenzen gut im Blick? Vielleicht ist das eine unserer Aufgaben für eine gute Zukunft? Das Ausloten und der Umgang mit den eigenen Grenzen?

Die Analogie zur Zukunft: Wir alle sitzen im selben Zug

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Auf der Reise in die Zukunft sitzen wir alle im selben Zug, ähnlich wie die Frau und ich. Wir müssen mit denselben Ressourcen umgehen, atmen dieselbe Luft, brauchen alle zu essen und zu trinken. Statt aufeinander zu achten, kreisen viele nur um sich selbst. Dabei überschreiten sie die Grenzen aller anderen. Sie horten, beschweren sich, fordern etwas ein oder zeigen mit den Fingern auf die, die alles falsch machen.

Geht es bei der Reise in die Zukunft nicht vielmehr darum, sich diesem Prozess zu öffnen? Geht es nicht vielmehr darum, auf dem Weg Anpassungen an spezifische Anforderungen vorzunehmen? Das klingt theoretisch, ist es aber nicht. Denn genau so sind wir eigentlich von der Natur gedacht: Wach sein, auf uns selbst und andere achten, uns in Gruppen bewegen und unsere eigenen Räume suchen. Ein sehr dynamischer Prozess. So geht Entwicklung. Schon immer. Und dieses Prinzip hat sich bewährt.

Die Konsequenz

Lächeln gilt als kürzester Abstand zwischen Freunden. Wie wäre es, diesen Abstand auch mit Fremden zu halten, anstatt ihre Grenzüberschreitungen zu dulden? Was es bräuchte, wäre also ein energisches Lächeln. Dann würde aus dem freundlichen Lächeln ein natürlicher Grenzstein, den wir für den erforderlichen Abstand zu anderen nutzen könnten. Auch im Umgang mit uns selbst könnte dieses freundlich-energische Lächeln unsere natürlichen Grenzen mitgestalten.



Lass es uns ausprobieren, du und ich. Ich bin gespannt, wie sich meine und deine Grenzwahrnehmung nach vier Wochen verändert hat, wenn wir uns auf dieses Experiment einlassen. Teile deine Erfahrungen gerne mit mir, unbedingt mit Freunden oder Fremden. Sei Teil dieser Veränderungsbewegung – mit einem Grenzen wahrenden Lächeln.

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